
ADHS? Warum Sie aufhören sollten, sich vorzuwerfen, Sie hätten zu wenig Selbstdisziplin
"Ich brauche einfach mehr Selbstdisziplin!". "Wenn ich nur mehr Selbstdisziplin hätte...". "Warum kann ich nicht einfach... die anderen können es doch auch! Und es ist doch eigentlich ganz einfach. Und ich bin ja auch nicht blöd! Ich will ja auch..."
Diese und ähnliche Sätze höre ich in meinen Coachings sehr oft.
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Wo kommen die Gedanken her, man hätte zu wenig Selbstdisziplin?
Wo kommen diese Sätze her und wie kommt ein erwachsener Mensch dazu, so über sich zu denken?
In aller Regel kommen solche Sätze (und es sind ja nicht nur Sätze, sondern damit verbunden ist auch eine bestimmte Umgangsweise mit sich selbst!) aus der Lebensgeschichte.
Man hat sie gehört. Von den Eltern, von den Lehrern, von der Hausaufgabenhilfe, etc.
Und dann hat man sie verinnerlicht. Und sie scheinen eine Erklärung dafür zu liefern, warum man als Mensch mit ADHS vieles von dem nicht umsetzt, was man eigentlich machen will (oder soll).
Man hat ein Bild von sich selbst entwickelt, das da heißt "Ich bin ein Mensch, der einfach zu wenig Selbstdisziplin hat - und der mehr Selbstdisziplin braucht. Ich bin ein Mensch, der sich immer wieder ablenken lässt und ich muss mich mehr zusammenreißen."
Sind Sie Ihr eigener Drill Instructor?
Und dann wird das versucht.
Es wird versucht, sich zusammenzureißen. Es wird versucht, mehr "Selbstdisziplin" aufzubringen.
Und sehr oft geschieht das nicht freundlich, unterstützend und mit Verständnis für sich selbst, sondern mit Selbstvorwürfen und Druck.

Menschen mit ADHS machen sich oft selbst Vorwürfe und Druck
"Ich brauche einfach mehr Selbstdisziplin, um diese Papiere hier mal abzuheften. Ich müsste mich eben einfach nur mal hinsetzen und es machen. Das ist ja eigentlich nicht so schwer. Aber stattdessen mache ich lieber Dinge, die eigentlich total unwichtig sind! Das ist doch Mist! Ich bin erwachsen und habe meine Papiere nicht im Griff! Das geht gar nicht, das ist peinlich! ... Naja, vielleicht bin eben doch einfach nur irgendwie zu faul. Denn die Dinge, auf die ich Lust habe, die schaffe ich ja..."
Das ist noch harmlos, das geht noch einen ganzen Zacken schärfer.
Und das schimme - Selbstvorwürfe sind oft meist gar nicht bewusst. Wir bekommen gar nicht mit, dass wir so schlecht mit uns selbst umgehen.
Was die Neurobiologie mit "Selbstdisziplin" zu tun hat
Es besteht eine erlebte Diskrepanz bei Menschen mit einer ADHS-Konstitution, die da heißt "ich soll - und ich will ja auch (sagt jedenfalls mein Kopf...) - aber ich tue es einfach nicht und ich verstehe nicht, warum nicht."
Was die meisten Menschen nicht wissen (woher auch?) ist, dass "Selbstdisziplin" eine Aufgabe unseres Frontalhirns ist.
Unser Frontalhirn ist ein Gehirnbereich des Großhirns direkt hinter unserer Stirn.
Und das Frontalhirn ist grob gesagt zuständig für SELBSTREGULATION und SELBSTSTEUERUNG.

Was heißt das?
Das heißt, dass alles, was zu unserer Selbstregulation und Selbststeuerung bzw. auch Handlungssteuerung gehört, kognitive Funktionen sind...
... die gut funktionieren, wenn der entsprechende Gehirnbereich "gut arbeitet". Und die nicht gut funktionieren, wenn der entsprechende Gehirnbereich "nicht gut arbeitet". (auf genauere neurobiologische Details gehe ich hier nicht ein)
Die Aufgaben unseres Frontalhirns:
Und man weiß aus der bildgebenden Gehirnforschung, dass das Frontalhirn einer der Bereiche ist, der bei Menschen mit einer ADHS-Konstitution anders arbeitet und nicht immer seine volle Funktion zeigt.
Das bedeutet, es kommt hier neurobiologisch bedingt immer wieder zu Beeinträchtigungen der o.g. Funktionen und Fähigkeiten. Das sind dann die sog. "ADHS-Symptome" - und wie Sie oben sehen, ist es wesentlich mehr als nur Konzentrationsprobleme und Hyperaktivität.
Zusammengefasst könnte man sagen:
ADHS-Menschen können nichts dafür, dass es Ihnen in manchen Situationen an "Selbstdisziplin" fehlt. Es hat neurobiologische Gründe.
Warum Selbstvorwürfe alles noch schlimmer machen
Das bedeutet, es bringt überhaupt gar nichts, hier mit Vorwürfen zu kommen. Die Neurobiologie ist eben die Neurobiologie. Erst mal jedenfalls.
Was meine ich mit: Keine Vorwürfe?
Keine Vorfürfe des Umfelds an den ADHS-Menschen. (an ADHS-Erwachsene oder auch an ADHS-Kinder!)
Keine Vorwürfe des ADHS-Menschen an sich selbst.
Vorwürfe machen alles noch schlimmer: Vorwürfe und Selbstvorwürfe steigern den Druck und die emotionale Anspannung - und damit funktioniert das Frontalhirn noch schlechter.
Je mehr Sie sich zu "Selbstdisziplin" zwingen wollen, desto schlechter klappt es und desto mehr werden Sie ausweichen.
Was ist stattdessen zu tun?
4 Tipps, was Sie stattdessen tun sollten
Ihr Frontalhirn arbeitet unter bestimmten Bedingunen besser und unter anderen schlechter.
Wenn Sie im Schmetterling-Club sind, dann haben Sie den Coaching-Call zu diesem Thema wahrscheinlich mitbekommen. Falls nicht, schauen Sie mal im Internen Mitgliederbereich nach "Das eigene Frontalhirn managen lernen - ADHS-Symptome reduzieren". Darin erkläre ich Ihnen dieses ganze Thema noch viel ausführlicher.
Die Devise hierbei lautet: Selbstunterstützung anstatt Selbstvorwürfe.
Gleich noch einmal:
SelbstUNTERSTÜTZUNG anstatt SelbstVORWÜRFE.
Wenn Sie jetzt wissen, dass "Selbstdisziplin" eine Funktion Ihres Frontalhirns ist, dann HELFEN SIE IHREM FRONTALHIRN.
Helfen Sie Ihrem Frontalhirn, die Aufmerksamkeit zu steuern, mit etwas anzufangen, mit etwas aufzuhören, dranzubleiben, etc.
WIE helfen Sie Ihrem Frontalhirn dabei?
Ein paar Tipps hier in aller Kürze, ausführlicher gibt es das alles wie eben schon geschrieben im Schmetterling-Club.
1. Machen Sie es Ihrem Frontalhirn und sich selbst leicht.
Brechen Sie große Aufgaben und Vorhaben in kleine Teilschritte herunter. Der erste Schritt sollte so minimal sein, dass Sie ihn gut schaffen können. Wenn Sie nicht "starten können", dann ist Ihr erster Schritt evtl. noch zu unklar oder zu groß und Ihr Frontalhirn gibt keinen Handlungsimpuls.
2. Suchen Sie immer das WARUM.
Ihr Frontalhirn arbeitet besser, wenn es weiß, WARUM Sie das machen wollen/sollen. Und hier meine ich nicht ein Gefühl von Lust und Motivation, sondern "Sinnhaftigkeit", den Sinn und das Ziel hinter der Tätigkeit.
Ihr Gehirn braucht einen Sinn, warum es sinnvoll ist, das jetzt zu tun, was Sie tun wollen, dann arbeitet es besser mit.
3. Stellen Sie sich die Frage "Was brauche ich jetzt?"
Wenn Sie mit etwas nicht anfangen, fragen Sie sich: "warum fange ich nicht an? was hindert mich? was brauche ich, um anzufangen?"
Wenn Sie an etwas nicht dranbleiben, dann fragen Sie sich: "habe ich ein WARUM? was würde mir helfen? was brauche ich, um dranzubleiben?"
4. Nutzen Sie die Gegenwart anderer Menschen.
Sicherlich haben Sie auch schon oft erlebt, dass Sie besser ins Tun kommen, wenn jemand neben Ihnen auch arbeitet. Oder dass Sie besser ins Nachdenken kommen, wenn Sie Ihre Gedanken nicht nur alleine für sich in Ihrem Kopf im Kreise drehen, sondern die Frage oder Situation mit jemand anderem durchdenken und durchsprechen.
.....
Jetzt bleibt zum Abschluss die Frage:
Was nehmen Sie für sich aus diesem Artikel mit?
Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit diesem Beitrag und mit dem Einblick in Ihr Frontalhirn helfen, eine andere Sicht auf Ihre "mangelnde Selbstdisziplin" zu gewinnen.
Lassen Sie mich in den Kommentaren gerne wissen, wie Sie darüber denken.
Herzliche Grüße
Birgit Boekhoff