Warum ADHS für mich keine Krankheit ist

ADHS ist keine Krankheit? Eine ganz schön mutige Aussage für einen ADHS-Coach in der heutigen Zeit.

In diesem Beitrag (genauso wie auf der gesamten Webseite, meine ich mit "ADHS" sowohl tatsächlich ADHS, als auch ADS - ohne H. Sollten Sie also eher zu den Menschen ohne die Hyperaktivität gehören, dann fühlen Sie sich bitte genauso angesprochen hier.

Ist ADHS eine Modeerscheinung? Nein. Menschen mit den ADHS-typischen Stärken und Schwächen werden schon seit Jahrhunderten in der Medizinliteratur beschrieben.

More...

Ist ADHS eine Charakterschwäche? Ebenfalls Nein. Menschen mit ADHS haben eine bestimmte genetische und neurobiologische Ausstattung, die zu ihren typischen Schwächen UND auch Stärken führt. Es ist eine Art zu sein, mit einer bestimmten Art wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen, zu handeln.

Gibt es ADHS vielleicht überhaupt gar nicht? Doch. Wer sich ernsthaft mit diesem Thema beschäftigt, und wer so viele Menschen mit so ähnlichen Grundzügen und „Strickmustern“ kennen gelernt hat, kann ADHS nicht leugnen.

Was ist ADHS dann?

Ich weiß natürlich, dass ADHS offiziell ein psychiatrische Diagnose ist. Also als psychische Erkrankung gilt. Und als ausgebildete Therapeutin sind mir natürlich auch die medizinischen Grundlagen der ADHS vertraut, wie z.B. die Besonderheiten im Gehirnstoffwechsel. Außerdem erlebe ich täglich in meinen Coachings, welchen Leidensdruck ADHS verursachen kann.

Die Medizin betrachtet ADHS also als Krankheit bzw. Störung. In der Medizin ist jedoch per defintionem alles eine Krankheit/Störung, was „ausserhalb des Normbereiches“ liegt. Also z.B. auch die Fähigkeit zur Synästhesie (einfach gesagt ist das die Fähigkeit, in „Farben zu denken“ oder Dinge immer mit einer bestimmten Zahl zu assoziieren, u.ä.). Synästhesie ist etwas, was nur wenige Menschen „haben“. Es ist also „nicht normal“, nicht der "Norm" entsprechend im Sinne von nicht der "Mehrheit" entsprechend. Aber alleine die Tatsache, dass etwas nicht der Mehrheit und damit der Norm entspricht, macht es in meinen Augen nicht zu einer Störung oder einer Krankheit.


KOSTENFREIES WEBINAR für Erwachsene

"ADHS im Erwachsenenalter - wie sieht es aus? was kann man tun?"

In nur 60 Minuten bekommen Sie einen kompletten Überblick über das Thema ADHS im Erwachsenenalter. Kostenfrei. Online. Termine jederzeit kurzfristig verfügbar.


ADHS ist für mich keine Krankheit.

Wie komme ich zu dieser Aussage? Ich erlebe in meiner Arbeit neben den Schwierigkeiten, wegen denen meine Klienten zu mir kommen, auch eine ganz reiche Palette an Begabungen, Fähigkeiten und Stärken – die meine Klienten haben, WEIL sie so gestrickt sind, wie sie sind. ADHS-Menschen sind immer ein Gesamtpaket mit typischen Schwächen, aber auch mit typischen Stärken. Es gibt das eine nicht ohne das andere. ADHS-Menschen sind nicht per se krank und viele brauchen keine Therapie, Beratung oder ärztliche Behandlung. Und ich erlebe, dass es möglich ist, als ADHS’ler ein zufriedenes, gesundes, erfolgreiches Leben zu führen. ADHS-Mensch zu sein bedeutet nicht automatisch, eingeschränkt und behandlungsbedürftig zu sein.

ADHS – die andere Sicht

Aus diesem Grund ist ADHS für mich eine Persönlichkeits-Konstitution, die zu Problemen und Krankheit führen kann, wenn man sie nicht versteht, nicht annimmt und nicht zu managen weiß. Die ADHS-Konstitution ist aber auch Grundlage für viele sehr schöne positive Eigenschaften und Fähigkeiten. ADHS-Menschen sind in meinen Augen eine Bereicherung für unsere Gesellschaft und – nebenbei gesagt – auch für mich persönlich! Ich arbeite gern mit meinen Klienten, weil ich sie als Persönlichkeiten sehr schätze.

Was soll denn an ADHS gut sein?

Diese Frage stellen sich viele Menschen, mit denen ich mich unterhalte, die ich im Coaching oder in Fortbildungen kennen lerne. Was an ADHS positiv ist, das lesen Sie hier: Das Positive an ADHS.

Wie gefällt Ihnen dieser Beitrag?
3.6 Sterne (197 Leser)

Vielleicht hilft ein neuer Begriff: Neurodiversität

"Was ist das denn nun wieder?" fragen Sie vielleicht. 

Wikipedia schreibt dazu: 

Neurodiversität („neurologische Diversität“) bezeichnet – gemäß dem 2011 an der Syracuse University (New York) gehaltenen National Symposium on Neurodiversity – ein Konzept, in dem neurobiologische Unterschiede als eine menschliche Disposition unter anderen angesehen und respektiert werden; atypische neurologische Entwicklungen werden als natürliche menschliche Unterschiede eingeordnet.  Nachdem das Konzept Menschen jedweden neurologischen Status umfasst, sind alle Menschen als neurodivers zu betrachten, der Begriff Neuro-Minderheit („neurominority“) verweist auf Menschen, die als Minderheit nicht neurotypisch sind.

Das Konzept der Neurodiversität versteht also unter anderem Autismus, AD(H)S, Dyskalkulie, Legasthenie und Dyspraxie als eine natürliche Form der menschlichen Diversität, welche derselben gesellschaftlichen Dynamik unterliege wie andere Formen der Diversität, und wendet sich damit gegen eine pathologische Konnotation. Dementsprechend lehnt die Neurodiversitätsbewegung eine pathologische Betrachtung von Neuro-Minderheiten generell ab.

Neurodiversität - unterschiedliche Gehirne

Neurodiversität - Menschen sind unterschiedlich veranlagt

Menschen mit einer ADHS-Konstitution gehören also zwar einer Neuro-Minderheit an (genauso wie Menschen mit anderen neurologisch und neurobiologisch bedingten Andersartigkeiten, wie z.B. Autismus oder Hochsensibilität) und sind nicht "neurotypisch", aber sie sind damit einfach nur "anders", eben ein Teil des natürlichen Spektrums an neurodiversen Menschen. Ohne Pathologisierung, "Gestört-Sein" oder "Krank-Sein".

Mehr Wertneutralität würde uns allen gut tun

Ich persönlich mag den Begriff "Neurodiversität" sehr, denn er hilft, neurobiologische Unterschiede in unseren Gehirnen und unseren persönlichen Veranlagungen wertneutral zu betrachten und damit Akzeptanz und Wertschätzung beizubehalten. Es geht dann einfach nur um "Anders-Sein" und nicht um "Krank- oder Gestört-Sein versus Normal-Sein". Und diese Betrachtungsweise auf Menschen, die "anders" sind, tut beiden Seiten gut: denen, die eben anders sind und denen, die "neurotypisch" sind.

Ich wünsche mir, dass diese Betrachtungsweise der Neurodiversität in unserer Gesellschaft irgendwie Einzug hält und wir aufhören, Menschen, die "anders" veranlagt sind, als schwierig, "nicht-normal", krank und therapiebedürftig zu sehen. 

Schreiben Sie mir gern einen Kommentar und lassen Sie mich wissen, was Sie zu dieser Frage denken.

Herzliche Grüße
Birgit Boekhoff

Das könnte Sie auch interessieren:

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Ihre e-Mail-Adresse wird NICHT veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit einem Sternchen * markiert.

  1. Ich finde schon das ADHS eine Krankheit ist, da sie unentdeckt zu so vielen Begleiterkrankungen führt. Ich bin ca 30 Jahre in Psychatrischer Behandlung gewesen und habe 16 Jahre lang Antidepressiva wegen meiner schlimmen Depressionen genommen und habe zahlreiche Psychotherapien hinter mir . Jetzt
    erst wurde meine ADHS entdeckt.
    Nun bin ich 66 Jahre. Ich habe mich für eine medikamentöse Therapie entschieden, damit ich erstmal endlich zur Ruhe komme. Danach werde ich weiter sehen.

  2. Von manchen Coaches und Therapeuten werden Intelligente ebenfalls zu den Neurodivergenten gezählt, allerdings erst ab "highly gifted", also ab 145.

    Ich selbst würde schon weit darunter beginnen, da bei einer unbehandelten ADHS eine durchschnittliche Steigerung von 10-15 Punkten bei optimaler pharmakotherapeutischen Einstellung möglich sind.

    D.h. sehr viele "durchschnittliche" ADHSler sind unerkannte "Hochbegabte". In der Psychologie ist das als catch22-Problem bekannt. Wenn Intelligenz durch eine oder mehrere Andersartigkeiten überdeckt werden.

    Die Stärke der Ausprägung ist v.a. durch zwei Faktoren bestimmt:
    a) reine (primäre) ADHS vs Syndrom (sekundäre) zB FAS
    b) primäres Umfeld und prägende Lebenserfahrungen (in der frühen Kindheit – Einfluss auf Epigenetik)

    Ich nehme dankender Weise endlich Amphetamin (LDX) – würde ADHS genauso wie andere Neurodivergenzen nicht als Krankheit oder Störung, sondern als eine andere natürliche neurobiologische Grundausstattung, die aufgrund einer im Durchschnitt erhöhten Sensibilität leichter zu beeinflussen ist, sowohl negativ als auch positiv, sehen.

    Durch die erlebte psychologische Misshandlung und die unterlassene Hilfeleistung ist meine ADS sehr stark ausgeprägt, weshalb ich durch das LDX überhaupt erstmalig in den Genuss funktionierender Exekutivfunktionen und emotionaler Regulation gekommen bin. Schlafen zu können und energiegeladen aufzustehen, ist für mich mittlerweile kein Traum mehr.

    Ich würde jedem, der eine Neurodivergenz bei sich vermutet, empfehlen sich selbst damit so weit es geht auseinanderzusetzen (Psychoedukation steht sowieso an zweiter Stelle) und erst danach zu einem Spezialisten zu gehen.

    VG

  3. „ADHS-Menschen sind nicht per se krank und viele brauchen keine Therapie, Beratung oder ärztliche Behandlung.“

    Dies wären im medizinisch diagnostischen Bereich entweder Menschen, die kein ADHS, sondern eine Persönlichkeitsstruktur haben die in Richtung eines ADHS geht, oder Menschen mit leichtem ADHS-Symptombild, was ebenfalls nicht zu einer ADHS-Diagnose führt (s. z.B. https://www.adhspedia.de/wiki/Symptome#Schweregrade).

    Ein diagnostiziertes ADHS beinhaltet IMMER Krankheitswert im Sinne von Leidensdruck und sich daraus ergebender Behandlungsbedürftigkeit. Wenn dies keine Krankheit ist, was dann?

    Als selbst Betroffene erlebe ich alltäglich, wie sehr es „uns Erkrankten“ und unserer Gesellschaft schadet, dass „Krankheit/Störung“, v.a. psychiatrische, grundsätzlich negativ assoziiert wird – auch und vor allem durch Äußerungen a la ‚wir sind doch alle unterschiedlich und das ist OK‘. Diese Äußerung entspricht an sich der Wahrheit, hat aber nichts mit ‚Symptomen mit Krankheitswert‘ zu tun. Krankheitswert heißt immer, es besteht ein Leidensdruck mit Bedarf zur Behandlung durch Ärzte oder Therapeuten.

    Ja, eine ICD-Diagnose kann, aber muss nicht immer Krankheitswert/Leidensdruck bedeuten (Beispiel Synästhesie oder auch Hochsensibilität). Bei ADHS ist dies aber im diagnostischen Vorgang enthalten. Diagnostizierten ADHSlern zu sagen, „du hast keine Krankheit, du bist normal“ klingt zwar nett, heißt aber eigentlich: „Du leidest nicht, du bist wie alle anderen“ – eine ungehörige Falschaussage. Sie ist auch keinesfalls das selbe wie „Du bist nicht minderwertig, deine Eigenschaften sind ebenso wertvoll wie die Anderer“. Letzteres hat keinerlei Zusammenhang mit Krankheiten oder Diagnosen – will man also lediglich letzteres aussagen, sollte man dies auch nicht mit Krankheit oder Diagnostik in einen Topf werfen.

  4. Hallo. Es ist schön wenn man auch was positives über ADHS hört. Als Mutter steht man ja permanenten Vorurteilen gegenüber. Seitens der Lehrer hat man bei meinem Sohn 5 Jahre in der Grundschule nur negatives gesehen. Jetzt auf der weiterführenden ist das etwas besser geworden. Aber es gibt da ja auch noch die Familie….

  5. Ich habe mich nicht testen lassen, aber in allem was ich lese finde ich mich wieder. Irgendwie bin ich erleichtert, da ich jetzt weis was mit mir los ist. Seit ich das weis sehe ich viele Dinge mit anderen Augen und ich werde mich so nehmen wie ich bin.

  6. ADHS-Menschen, die Schwierigkeiten haben, machen ja auch pathologische Sachen. Wie zum Beispiel, sich vor lauter Angst vor dem Arbeitstag übergeben, oder nicht mehr schlafen, weil sie nicht mehr weiter wissen. Machen sich selbst runter und wissen gar nicht, wie unendlich wichtig sie für unsere Gesellschaft sind. Manche Menschen brauchen erst eine Diagnose um sich selbst zu vergeben und Gnade vom Umfeld zu erlangen. Aber danach, finde ich, ist es wichtig, sich für sein Sein zu lieben und hoch zu halten. Auf zu begehren und zu sagen, ich bin gut so wie ich bin. Ich fange wider an, an mich zu glauben. An Desorganiertheit und den anderen Defizieten lässt sich arbeiten. Aber den Respekt für Dich selbst, hast nur Du in der Hand.

    1. Hallo Alexa,
      das haben Sie gut beschrieben: wir müssen uns zu aller erst selbst annehmen. Das liegt auch nur in unserer Hand. Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Und jeder Mensch kann lernen, sich selbst so anzunehmen, wie er ist. Wenn wir uns selbst angenommen haben, dann sind wir auch die größte Bereicherung für uns selbst und für unser Umfeld.

  7. Es existiert keine „Wie“-Form von einer medizinischen F-Diagnose – und wenn man doch eine „Wie“-Form daraus macht, macht man eine komplette Sinnveränderung, die nicht mehr der medizinischen Diagnose entspricht (als ob man aus einer „Bank“ auf der man sitzt, eine „Bank“ macht, bei der man das Geld sich holt – nur weil es die gleichen Wörter sind). Somit kann kein ADHS-ler „gestört“ sein, nur weil er eine psychische Störung hat.

    Und nur die ADHS’ler, die unter den ADHS-Symptome leiden, bekommen eine ICD-10-F-Diagnose. Hat man die Symptome und kann gut damit leben (ohne Leidensdruck) hat man auch kein Recht auf die F-Diagnose.

{"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}
WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner