
Wie Menschen mit ADHS sich wirklich fühlen – und was keiner weiß
Wenn man "anders" ist, als die Mehrheit, dann bekommt man das sehr schnell mit. Man merkt es selbst und man bekommt es ausreichend von aussen gespiegelt. Schon als Kind. Und später als Erwachsener.
Je nachdem, in welchen Aspekten man anders ist, gibt es verschiedene typische Standard-Kritiken, Vorwürfe, Empfehlungen, Tipps und Ratschläge.
Es gibt Standard-Kritiken für Zu-Sensible, für Zu-Unsensible, Zu-Langsame, für Zu-Schnelle, für Zu-Schlaue, für Zu-Begriffstutzige, für Zu-Laute, für Zu-Leise, etc.
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Menschen mit ADHS hören z.B. sehr oft, sie sollten nicht so sein, wie sie sind. Konkret gesagt, sie sollten anders denken, fühlen und handeln.
Wie oft bekommen ADHS-Menschen von Kindesbeinen an zu hören, sie sollten besser aufpassen, sie sollten sich "benehmen", sich konzentrieren, sich nicht so aufregen sondern ruhig bleiben, etc.
Das alles tut ziemlich weh, wenn man sich aus seiner Sicht doch schon bemüht. Wenn man sein Bestes gibt und gar nicht weiß, wie man es noch anders machen sollte.
Welche Schäden das am Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen von ADHS-Kindern und -Erwachsenen anrichten kann, das lesen Sie hier.

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Das, was ich im Folgenden schreibe, trifft sicherlich nicht auf alle ADHS-Menschen zu. Es gibt natürlich auch andere Lebenserfahrungen. Aber meiner Erfahrung nach trifft das doch auf sehr viele zu.
Die häufigste und schlimmste Kritik, unter der viele ADHS-Menschen leiden
Als ADHS-Coach habe ich nun seit über 10 Jahren Erwachsenen ADHS-Klienten zugehört und es gibt ein Thema, das immer wieder auftaucht und unter dem sehr, sehr viele ADHS-Menschen ganz still und heimlich leiden.
Über das sie nicht sprechen, weil auch nie jemand danach fragt.
Es gibt einen Vorwurf, eine Aufforderung, die Kinder und Erwachsene mit ADHS immer und immer wieder zu hören bekommen:
STRENG DICH MEHR AN.
"Streng dich mehr an. Wenn du dich mehr anstrengen würdest, dann könntest du es."
In dieser Formulierung oder irgendeiner Abwandlung davon.
Menschen mit ADHS sollten sich mehr anstrengen. Sie bräuchten mehr Selbstdisziplin. Sie bräuchten mehr Biss.
Und wissen Sie was?
An ganz, ganz vielen Stellen ist das sowohl ein unglaublich schmerzhafter Dolchstoß mitten ins Herz als auch eine riesige Farce.
Ein Dolchstoß deshalb, weil ADHS-Menschen sich meistens sehr wohl anstrengen.
Und eine Farce deshalb, weil es eben nicht einfach auf Knopfdruck geht.
Wie es in Wirklichkeit ist
Die Wahrheit ist:
Menschen mit ADHS strengen sich wahnsinnig an. Von morgens bis abends. Immer und immer wieder.
Es sieht für andere von aussen nur leider nicht so aus.
Als Kinder bei den Hausaufgaben, im Unterricht beim Zuhören, auf der Arbeit beim Erledigen von Aufgaben und Einhalten von Terminen, in der Partnerschaft bei der Organisation des Alltags, usw.
Das ist jetzt natürlich etwas generalisiert. Aber ich mache es bewusst so plakativ.
Und wie mag es einem Menschen gehen, wie mag sich ein Mensch fühlen, der aus seiner Sicht sein Bestes gibt, sich nach seinen Möglichkeiten anstrengt - und dann erkennt man ihm diese Anstrengung einfach ab? Man sieht sie nicht? Man fordert immer noch mehr? Es reicht noch nicht?
Die Wahrheit ist:
Menschen mit ADHS strengen sich wahnsinnig an. Von morgens bis abends. Immer und immer wieder.
Es sieht für andere von aussen nur leider nicht so aus.
Wie sich viele Menschen mit ADHS heimlich fühlen - ohne das jemals zu sagen
Weil ich im Coaching immer wieder genau das gehört habe, dass meine Klienten verinnerlicht haben, sie sollten sich mehr anstrengen und weil sie darunter leiden, dass sie sich so sehr anstrengen und es aber immer noch nicht reicht - deshalb möchte an dieser Stelle diesem stillen Leiden einmal öffentlich Ausdruck verleihen und das oft Ungehörte zu Gehör bringen.
Eine Blogleserin hat neulich unter einem anderen Beitrag genau das sehr anschaulich zum Ausdruck gebracht, was ich in meinen Coachings schon unzählige Male von meinen Klienten gehört habe.
Stellvertretend für all diese ADHS-Menschen, die sich von diesem Thema angesprochen fühlen, zitiere ich hier den Kommentar dieser Blogleserin:
"Mein ganzes Leben hindurch muss/te ich Disziplin aufbringen.
Disziplin, nicht negativ aufzufallen, von allen gemocht zu werden.
Disziplin, ordentlich zu sitzen und zu essen.
Disziplin, nicht wütend zu werden.
Disziplin, aufzupassen, nicht zu träumen, Dinge auswendig zu lernen obwohl ich den Sinn dahinter nicht verstehe (ein nahezu unmögliches Unterfangen, sehr schmerzhaft und energieraubend – wie alles eigentlich in meinem Leben).
Disziplin andere Mitmenschen mit meiner Denkweise nicht zu überfordern.
Disziplin micht deutlich auszudrücken und dabei nicht beleidigend zu wirken (obwohl ich das nie so meine).
Disziplin alles ordentlich zu halten, mich zu verwalten, meine Familie, für jeden da zu sein.
Disziplin gedanklich nicht immer abzuschweifen und meinen wirklich ernsthaften Gedanken nachzuhängen. Zusammenhänge zu ergründen, wo andere gar nichts sehen/erfassen können.
Disziplin nichts zu vergessen oder mich nur auf ganz Banales zu konzentrieren.
Disziplin keine Fehler zu machen (dazu muss man besonders gut organisiert sein).
Disziplin, Disziplin, Disziplin, Motivation, Selbstreflexion usw. usw. usw.
Das ist soooo anstrengend. Es raubt mir die letzten Kräfte. Tätigkeiten und Eigenschaften, die Menschen ohne AD(H)S eben ohne große Anstrengungen, ohne große disziplinarische Maßnahmen bewältigen können und ich nur staunen kann, wenn diese dann noch anstrengenden Hobbys in Ihrer Freizeit nachhängen können.
Als Kind sagte man mir, ich soll nicht so viel träumen und mich nicht so viel ablenken lassen. Ich habe überhaupt nicht verstanden was da falsch war an mir.
Aus meiner Sicht war ich stets hochkonzentriert, ich habe nicht geträumt. Im Gegenteil mir kommen nur immer so viele Gedanken zusätzlich in den Sinn, die ich auf Anhieb nicht sortieren kann. Das dauert eben seine Zeit. Aus meiner Sicht war ich stets freundlich – obwohl ich in die Welt hinausschreien wollte „wie unhöflich ihr doch in EUREM Verahlten und EURER Ausdrucksweise seid“.
Ja, ich brauche länger um etwas zu lernen. Ich bin deswegen nicht dumm, denn ich habe viele Interessen. Ich bin auf alles neugierig, möchte alles wissen und erfahren. Warum wollen denn die „Anderen“ das nicht?
Aber, wenn ich mal etwas kann – so richtig kann – dann kann ich es besser als jeder andere (der vielleicht in einer Prüfung mit einer „1“ abgeschnitten hat). Weil ich alles hinterfrage – ich gelernt habe nicht locker zu lassen – ich gelernt habe etwas durchzuziehen, etwas zu Ende zu bringen.
Wenn die wüssten, wie viel Kraft man dazu benötigt – die hätten doch alles schon aufgegeben. Denn das was man von uns verlangt, das würde man von Normalos erst gar nicht fordern.
Ich bin nur so wütend. Ein Leben lang trichterte man mir ein, dass ich dumm bin, dass ich nicht liebenswert bin. Das eh nix aus mir wird. Wer will bzw. kann denn da noch wachsen? Verlorene Kinder-/Menschenseelen. In einer Gesellschaft in der alles und jeder normiert wird (ist ja soooo einfach und soooo langweilig, gähn).
Ich bin stark und weigere und weigerte mich stets unter größten Anstrengungen die Bewertungen unwissender (wirklich dummer) Menschen, die nicht fühlen, die nicht sehen, die nicht denken und phantasieren können wie ich, zu akzeptieren.
Ich bin jetzt 44 Jahre alt. Ich weiß erst seit ca. 6 Wochen dass ich diese „Begabung“ habe. Für mich war es eine riesen Erleichterung zu wissen, dass ich so wie ich bin sein darf. Und jetzt erst recht."
Wie geht es Ihnen? Was sind Ihre Gedanken dazu? Schreiben Sie mir unten in die Kommentare, was Sie dazu denken.
Herzliche Grüße
Birgit Boekhoff