Das „Struktur-Dilemma“ – die dünne Linie zwischen hilfreicher Struktur und einengendem Korsett

"Ich brauche mehr Struktur!". Kennen Sie diesen Satz von sich?

Menschen mit ADHS sehnen sich meist nach mehr Struktur. In ihrem Leben, in ihrem Alltag, in ihrem Büro, in ihrem Kopf, etc.

Doch kennen Sie auch das von sich: "Ich habe mir eine Struktur gemacht, aber ich halte sie nicht ein!"?

Nun, das kann sehr viele verschiedene Gründe haben, hier möchte ich auf einen dieser Gründe eingehen: das Struktur-Dilemma.

Was ist das Struktur-Dilemma

Das Struktur-Dilemma ist die Zwickmühle, in die Menschen mit ADHS geraten, wenn sie versuchen, eine für sich passende Struktur einzuführen in ihrem Leben und dann feststellen, dass sie sich zwar nach mehr Struktur gesehnt haben, sich davon aber gleichzeitig auch eingeengt fühlen. Und sie deshalb (unbewusst) sofort wieder meiden und sabotieren.

Wieso kommt es zu diesem Struktur-Dilemma

Um das Struktur-Dilemma zu verstehen, muss man das ADHS-Gehirn verstehen.

Es ist - sehr vereinfacht gesagt - so:

  • das ADHS-Gehirn denkt sehr assoziativ und nicht-linear, es springt quasi gedanklich hin und her wie die Kugel in einem Flipper-Automat
  • das ADHS-Gehirn ist ständig auf der Suche nach Stimulation
  • das ADHS-Gehirn - und vor allem das Frontalhirn mit seinen Exekutiv-Funktionen - ist von ausreichend Dopamin-Ausschüttung abhängig, sonst "denkt" es nicht (Dopamin wird hauptsächlich ausgeschüttet bei etwas, was interessant ist und/oder Freude bereitet)

Diese ganzen Aspekte führen dazu, dass im Inneren eines Menschen mit ADHS und damit dann auch im Äußeren Chaos und Sprunghaftigkeit entstehen. Und dadurch entsteht dann in der Folge die Sehnsucht nach "mehr Struktur".

Allerdings führen eben genau dieselben Aspekte auch dazu, dass eine eingeführte Struktur schnell wieder abgelehnt wird. 

Denn das ADHS-Gehirn

  • WILL assoziativ denken und handeln und eben NICHT geplant und linear
  • WILL Reizen nachjagen, um stimuliert und damit überhaupt "wach" und denkfähig zu sein
  • WILL das tun, wo es eine intrinsische Motivation hat oder was sich gut anfühlt, denn das führt zu Dopaminausschüttung im Frontalhirn und damit zu mehr "Denkleistung"

Und hier haben wir das Dilemma: Das ADHS-Gehirn will mehr Struktur (und braucht sie auch), aber gleichzeitig fühlt es sich dadurch eingeengt, beschnitten, unfrei und es verliert einen Teil der Dopaminausschüttung, die es hat, wenn es Reizen und Emotionen nachjagt und spontan agiert.

Was ist nun die Lösung

Es gibt eine Lösung.

Der erste Schritt dabei ist - wie immer - das Ganze überhaupt erst einmal zu verstehen.

Aha - ich brauche Struktur.
Aha - aber bitte auch nicht zu viel davon!

Menschen mit ADHS neigen dazu, mit der Strukturierung überzuschießen. Also von 0 auf 100 gleich alles und jeden vollständig durchzustrukturieren.

Da würde ich als ADHS-Gehirn auch schreiend davonlaufen! ;-)

Die Lösung liegt in der Mässigkeit. So langweilig es klingt, aber ja.

Wenn Sie Strukturen einführen, dann mit Bedacht. An einer Stelle. Einen ersten Struktur-Schritt. Dann testen und vor allem FÜHLEN! Fühlt sich dieses Stückchen Struktur für mich gut an? Kann ich mich darauf einlassen? Wenn Sie merken, Sie können sich darauf einlassen, dann darf ein weiteres Stückchen Struktur dazu kommen. Wenn Sie merken, dass Widerstand entsteht, dann gehen Sie einen Schritt zurück, dann war es zu viel.

Nehmen Sie Ihr Gehirn mit in diesem Prozess! Nicht einfach über den Haufen fahren! Dann klappt es auch mit dem Nachbarn - ähm bzw. mit der Struktur :-D

Wie denken Sie über dieses Thema? Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Thema Struktur gemacht? Lassen Sie es mich unten in den Kommentaren wissen, ich freue mich, von Ihnen zu lesen.

Herzliche Grüße
Birgit Boekhoff


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  1. Ja, das kenne ich nur zu gut. Ich bin 47 und weiß erst seit kurzem dass ich ADHS habe. Habe mich leider nie mit dem Thema ADHS befasst, da ich es auch für ein Märchen hielt. Bis ich wegen Burnout und Depression in Behandlung war und der Psychiater mich fragte ob ich immer so sprunghafte Gedanken habe. Da habe ich es trotzdem noch nicht geglaubt. Aber mich sprach dann noch eine Therapeutin darauf an. Und als ich dann anfing Blogs von Betroffenen oder Fachartikel über ADHS zu lesen und Podcasts gehört habe, fand ich mich sofort wieder und verstanden. Mein Anderssein hatte einen Namen. Es ist keine Einbildung oder Gefühl.
    Schon lange sehne ich mich nach Ordnung und Struktur, aber sämtliche Ratgeber helfen nicht. Und das mit den Häppchen konnte ich bisher nicht akzeptieren, da komme ich doch nie ans Ziel.
    Die DeRena-App mit Wochenplanung und Tagesplanung nervt mich nur. Dann lieber auf Papier PlanAen.
    Ich versuche inzwischen auch nicht mehr ALLES auf die ToDo Liste zu setzen und suche mir von der ToDo die wichtigsten Dinge, die ich am Tag schaffen will, raus. Das habe ich von einer guten Therapeutin in der Tagesklinik gelernt.
    Auf Arbeit (Bürojob) sind ToDoListen und Planung in Excel+Papier gut. Schlimm finde ich es auf Arbeit, wenn sich die Aufgaben nicht in der geplanten Zeit erledigen lassen (ist meistens der Fall) und wenn sich Prioritäten verschieben. Dann muss ich wieder neu planen…und das dauert :(

    1. Hallo Steffi, ähnlich erging es mir auch. Seit Kindheit eine Maske getragen. Wusste aber immer, dass irgendetwas nicht stimmt. Dachte, so ist das Leben eben. Durch den Tod meines Mannes im letzten Jahr habe ich mich zur Ablenkung in die Arbeit gestürtzt. Dann der Zuammenbruch. Burnout, Depression, PTBL, Kindheitstrauma … Meine Mauer, die seit Jahrzehnten stand, ist krachend eingestürtzt. Und dann kam die Diagnose ADHS. Bin getestet. Alles ergibt jetzt einen Sinn! Fange jetzt ein neues Leben an. Muss alles in kleinster Arbeit neu aufbauen, weil meine ganzen Strukturen weg sind. Kleine Schritte (sind für mich echt übel, weil es Zeit braucht! Ungeduld lässt grüßen … ). So langsam komme ich voran. Von Woche zu Woche immer ein kleiner Happen mehr an Struktur/Routine. Schreibe auf, was ich erreichen möchte. Wenn ich es nicht schaffe, dann kommt es auf die Liste für die kommende Woche. Gleichzeitig mache ich Achtsamkeitsübungen, stärke meine Selbstliebe und meinen Selbstwert. Sag ja, so langsam gehts voran! Nur nicht aufgeben! :-)

  2. Ja, das kenne ich nur zu gut. Ich bin 47 und weiß erst seit kurzem dass ich ADHS habe. Habe mich leider mit dem Thema ADHS befasst, da ich es auch für ein Märchen hielt. Bis ich wegen Burnout und Depression in Behandlung war und der Psychiater mich fragte ob ich immer so sprunghafte Gedanken habe. Da habe ich es trotzdem noch nicht geglaubt. Aber mich sprach dann noch eine Therapeutin darauf an. Und als ich dann anfing Blogsvon Betroffenen oder Fachartikel über ADHS zu lesen und Podcasts gehört habe, fand ich mich sofort wieder und verstanden. Mein Anderssein hatte einen Namen. Es ist keine Einbildung oder Gefühl.
    Schon lange sehne ich mich nach Ordnung und Struktur, aber sämtliche Ratgeber helfen nicht. Und das mit den Häppchen konnte ich bisher nicht akzeptieren, da komme ich doch nie ans Ziel.
    Die DeRena-App mit Wochenplanung und Tagesplanung nervt mich nur. Dann lieber auf Papier Planen.
    Ich versuche inzwischen auch nicht mehr ALLES auf die ToDo Liste zu setzen und suche mir von der ToDo die wichtigsten Dinge, die ich am Tag schaffen will, raus. Das habe ich von einer guten Therapeutin in der Tagesklinik gelernt.
    Auf Arbeit (Bürojob) sind ToDoListen und Planung in Excel+Papier gut. Schlimm finde ich es auf Arbeit, wenn sich die Aufgaben nicht in der geplanten Zeit erledigen lassen (ist meistens der Fall) und wenn sich Prioritäten verschieben. Dann muss ich wieder neu planen…und das dauert :(

  3. Hallo
    Der Artikel beschreibt genau mein Problem. Ich kriege ohne ToDoListe nichts auf die Reihe, aber das aktualisieren und abarbeiten klappt gar nicht…
    Ich versuche gerade nach einer Aktivierung (durch Aufräumen) meine verbesserte Konzentration zu nutzen und mir 3 akute Aufgaben aus TDL und dem was mir aufgefallen ist als Tages Aufgabe aufzuschreiben. Das will ich unbedingt schaffen. Falls danach noch Zeit ist, mache ich spontan Dinge auf die ich gerade Lust habe…
    So schaffe ich wenigstens die wichtigsten Dinge 😉

  4. … ich schreibe mir (durchnummeriert) auf, was ich erledigen möchte und drehe dann an einem kleinen Glücksrad (Kinderspielzeug), dann erledige ich meine Aufgaben.

    Es funktioniert ziemlich gut :-)

  5. Hallo Birgit,

    mal wieder ein interessanter Beitrag.

    für mich habe ich nach jahrelanger Übung, bin jetzt 55, eine einigermaßen funktionierende Struktur gefunden.

    Allerdings habe ich jetzt eine Tochter (11) die auch an ADHS leidet. ihr soll ich jetzt auch eine Tagesstruktur geben und lernstruktur. das ist fast unmöglich.

    wenn du da nochmal einen hilfreichen Tipp hättest 😉

  6. Hallo Birgit,

    vielen Dank für deine aufmunternde und motivierende Denkansätze.
    Das hilft sehr, wenn man beginnt diese persönlichen Eigenheiten zu verstehen.

    Liebe Grüsse aus dem Breisgau

  7. Als ADS-ASSler waren Strukturen immer nötig und immer schwierig. Mittlerweile ist mein Tag vollkommen durchgeplant, allerdings mit Timeboxen fürs Nichtstun/Sorgen machen und fürs Rabitholing für alles, was das Interesse weckt.

    Die einzelnen Einheiten sind "muskisch" (Elon Musk) untergliedert, d.h. große Timeboxen sind nach ihrer Art untergliedert, diese wiederum in schnell zu erledigende Aufgaben.

    Die Planung erfolgt mit libre-calc und mit dem Farben orange, hellrot, rot, limette und grün. Dass der überwiegende Teil grün wurde, dauerte mehrere Jahre (viele rote Tabellen oder sogar nicht dokumentierte weiße Flächen) und benötigte viele verschiedene Strukturierungsmethodikversuche.

    Viele Grüße
    J.S.

  8. Jahrelang versuche ich schon eine Tagesstruktur für mich aufzubauen, habe es inzwischen aufgegeben, obwohl ich sehr viel ADHS-Fachwissen habe.

    Da ich aktuell arbeitslos bin, habe ich kürzlich wieder einen Versuch gestartet und 2 Tage konnte ich diese Struktur durchhalten. Ich lasse mich schnell ablenken und dann ist wieder alles vergessen. Ich fühle mich immer unter Zeitdruck.

    Mein Ansatz war, nur den Tagesbeginn zu strukturieren, in kleinen Einheiten. Das ist schon viel, so einfach wie möglich. Ich scheitere immer am Durchhalten,
    etwas nach Plan durchzuziehen, weil meine Gedanken springen und ich schon wieder bei der nächsten Sache bin. Es ist frustrierend.

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